Auf dieser Seite: www.animal-learn.de/rosie.php können Sie die berührende Geschichte der jahrelang sexuell missbrauchten Hündin Rosi lesen. Sie gibt einen tiefen Einblick in die Psyche missbrauchter Tiere.
Vielen Dank für die freundliche Genehmigung an Clarissa v. Reinhardt
Rosies Geschichte ist nicht nur die Geschichte einer Hündin, die über Jahre misshandelt und missbraucht wurde. Sie ist auch eine Geschichte von Menschen, die sich nach ihrer Befreiung verzweifelt darum bemühten, sie zurück – oder sollte man besser sagen überhaupt erst hinein – in ein hundewürdiges Leben zu führen, und es ist vor allem auch ein sehr persönliches Stück meiner Geschichte und der meines Mannes.
Mein Mann Burkhard und ich lebten in einem Bauernhaus zusammen mit unseren zwei Hunden Elsa und Chenook. Elsa, eine Mischung aus Gebirgsschweißhund und Boxer, kam als Welpe zu mir und war damals sehr krank. Sie wurde in die Praxis eines befreundeten Tierarztes gebracht, der der kleinen Hündin, die da schwer atmend in einem mit Decken ausgepolsterten Bananenkarton lag, nicht viel Chancen gab, es doch aber wenigstens versuchen wollte. Sie hatte Parvovirose, eine Viruserkrankung, die zu blutigen Brechdurchfällen führt und zumindest bei Welpen meistens mit dem Tod endet. Aber dieser kleine braune Hund wollte leben, kämpfte mit seiner ganzen Kraft, und so fragte mich unser Freund, ob ich bereit wäre, mich um ihn zu kümmern. Ich nahm Bananenkiste samt Hund mit nach Hause, baute meine Küche kurzerhand zum Krankenlager um, indem ich Nägel in die Holzbalken schlug, von denen die Infusionsflaschen herabhingen, und alles mit Plastikplanen auslegte, um besser reinigen zu können. Das kleine braune Wesen brauchte einen Namen, und so taufte ich sie nach einigem Überlegen Elsa, weil sie braun war wie eine Löwin und weil sie wie eine Löwin um ihr Leben kämpfte, was mich an die wunderbare Geschichte der Löwin Elsa von Joy Adamson erinnerte. Elsas Geschichte ist letztendlich eine eigene, hier sei nur erwähnt, dass sie diese Krankheit überlebt hat und seitdem bei mir (und später, als ich meinen Mann kennen lernte, bei uns) lebt.
Chenook kam einige Jahre später zu uns. Sein Vater war eine Mischung aus Hovawart und Schäferhund und seine Mutter ein Collie, und so wurde er ein stattlicher Rüde mit dem Wachtrieb des Hovawart und der Freundlichkeit und Sanftheit des Collies. Er gehörte einer Frau, die nach zweieinhalb Jahren fand, dass der Hund doch zu groß geworden sei und außerdem einige Verhaltensprobleme hatte, die sie zwar selbst verschuldet hatte, für die sie sich jedoch trotzdem nicht für zuständig befand. Kurzum: Er sollte weg und kam so zu mir.
So lebten wir also mit zwei Menschen und zwei Hunden im Chiemgau, bildeten eine glückliche Familie, und alles war bestens. Eines Tages hatte ich eine Art Vorahnung. Ich hatte innerhalb einer Woche dreimal geträumt, dass ein weiterer Hund zu uns kommen würde, und fühlte intuitiv, dass dies nicht irgendein Traum war, sondern einer jener, die eine besondere Bedeutung hatten. Er forderte mich zum Handeln auf, ich spürte, dass es irgendwo auf dieser Welt einen Hund gab, der darauf wartete, von mir gefunden zu werden. Es galt nur herauszufinden, wo dieser Hund war, denn darüber sagte mein Traum nichts. In verschiedenen Religionen findet sich die Aussage, dass unsere Träume und Visionen nur dann in die Realität kommen können, wenn wir sie dort verwurzeln. Mit anderen Worten: Ich musste die Information in die Welt tragen, dass ich nach einem Hund suchte – dann würden sich bestimmt Wege auftun, die zu ihm führen. Dies war meine feste Überzeugung, und da ich mich gerade auf einer Seminarreise befand, nahm ich mir vor, einfach allen Teilnehmern dieser Veranstaltung zu erzählen, dass ich nach einem Hund suchte, und abzuwarten, was dann passierte. Mein Plan kam mir logisch und doch verwegen vor. Irgendein Hund sollte es sein? Oder würde mir meine innere Stimme vielleicht doch noch ein paar mehr Informationen darüber geben können, welche Art von Hund es war, den ich da suchte? Ich konzentrierte mich, und die ersten Wörter, die mir einfielen waren „weiblich, Collie, es geht mir schlecht“. Ich suchte also einen weiblichen Collie, dem es irgendwie nicht gut ging. Und so gab ich es bekannt. Nach dem nächsten Theorieblock des Seminarthemas sagte ich beiläufig, dass Burkhard und ich bereit wären, noch einen weiteren Hund, am liebsten aus dem Tierschutz, aufzunehmen und dass wir gern einen Collie hätten. Wenn jemand was wüsste, solle er uns doch einfach Bescheid geben. Darauf meldete sich ein Ehepaar, das mir eine Internetadresse gab www.Collie-in-Not.de. Das sei die Homepage eines Vereins, der sich speziell um Collies aus dem Tierschutz kümmere, vielleicht würde ich dort etwas finden. Ich war zwar gespannt, was sich nun tun würde, nachdem ich meine Information in die Welt gegeben hatte, aber mit einer so schnellen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Natürlich war ich aufgeregt, hätte am liebsten sofort das Internet aufgerufen, hatte aber keine Gelegenheit dazu, da ich mich in einem Hotel befand, das diesen Service nicht anbot.
Gleich am nächsten Tag, als wir wieder im Chiemgau ankamen, rief ich die genannte Homepage auf und war neugierig, was mich erwarten würde. Ich klickte mich durch die verschiedenen Abteilungen bis zu den „Vermittlungen“ und rollte dort die Bilder und Beschreibungen der verschiedenen Hunde auf dem Bildschirm herunter. Und da war sie! Ich erkannte sie sofort. Eine Colliehündin, die ziemlich verschüchtert wirkend in einem Korb lag, mit einer kurzen, knappen Beschreibung, sie brauche erfahrene Hände, da sie sehr ängstlich sei.
Kennen Sie diese innere Unruhe, die freudige Erregung, wenn Sie einfach wissen, ohne dies logisch erklären zu können, dass Sie auf dem richtigen Weg sind?! So ging es mir. Innerlich aufgewühlt, in freudiger Erwartung und gleichzeitig aufgeregt, rief ich sofort die angegebene Telefonnummer an, um mich nach „meinem“ Hund zu erkundigen. Nach endlos langem Klingeln nahm eine Dame am anderen Ende der Leitung ab: „Collie in Not, Koopmann, guten Tag.“
Ich erklärte, dass ich mich für die Hündin interessiere, bereits mehrere Hunde hätte und ganz bestimmt eine gute Hundemutter sein würde – mit Haus und großem Garten und allem, was ein Hundeherz so glücklich macht... und mir wurde gesagt, dass die Hündin wahrscheinlich gar nicht zu vermitteln sei, weil sie so schwer verhaltensgestört ist, dass es wohl kaum Hoffnung für sie gäbe. Frau Koopmann erklärte mir, dass Rosie (damals hieß sie noch anders, aber ich möchte ihren alten Namen nicht verwenden, denn für uns war sie immer Rosie) seit Wochen die meiste Zeit teilnahmslos in einem Korb liegen würde. In diesem Zustand des geistigen Abgetauchtseins befand sie sich fast immer, und wenn sie überhaupt einmal ansprechbar war, verlor sie beinahe den Verstand vor Angst. Es waren schon mehrere Hundeexperten, Trainer etc. da gewesen, und jeder hatte nur kopfschüttelnd vor diesem Hund gestanden und keinen Rat gewusst. Ich solle mir die ganze Sache lieber noch mal überlegen, es stünden auch noch andere Colliehündinnen zur Vermittlung, die nicht ganz so verstört seien, denn vor kurzem hatte eine Beschlagnahmung einer ganzen Scheune voll Hunde stattgefunden, von denen nun einige bei Collie in Not e.V. untergebracht worden waren. Rosie war eine davon.
Wir vereinbarten, dass ich mich am nächsten Tag wieder melden würde und mir bis dahin ganz genau überlegen sollte, ob ich mich wirklich auf ein so schwer verhaltensgestörtes Tier einlassen wolle. Später erfuhr ich dann, dass Frau Koopmann die Zeit, die ich mir zum überlegen nehmen sollte, nutzte, um sich über mich zu erkundigen. Ein aus ihrer Sicht verständlicher Schritt, denn sie wollte sicher sein, wem sie dieses Tier – wenn überhaupt – anvertraute. Man hatte bereits ernsthaft über eine Einschläferung nachgedacht, obwohl man diesem Gedanken sonst keinesfalls nahe stand. Nur bei diesem Hund schien so alle Hoffnung verloren.
Ich schlief unruhig in dieser Nacht, überlegte, was mit diesem Hund wohl los war, warum ich so sicher war, dass er zu uns gehörte, auf was ich mich wohl einlassen würde usw. usw. – die Gedanken drehten sich schließlich im Kreis, und so beschloss ich, ihnen nicht weiter nachzuhängen, da ich sowieso nicht mit Sicherheit wissen konnte, was auf mich zukäme. Ich hatte mir Rosies Bild ausgedruckt und an meinen Schreibtisch gehängt. Am nächsten Morgen rief ich Frau Koopmann an und sagte, ich sei mir noch immer sicher, dass ich diesen Hund haben wolle, und so schlug sie mir vor, vorbeizukommen und mir erst einmal selbst einen Eindruck von Rosie zu verschaffen. Innerhalb weniger Tage verlegte ich alle meine Termine und machte mich gemeinsam mit einer Praktikantin auf den langen Weg vom einen Ende der Republik zum anderen, denn ich lebe im Chiemgau, kurz vor der österreichischen Grenze, und der Hund war in Ostfriesland.
Die Fahrt war nervtötend und lang. Ich hatte geplant, so gegen 18.00 Uhr anzukommen, stattdessen erreichte ich das Haus von Collie in Not e.V. gegen 2.00 Uhr nachts. Unterwegs hatte ich mehrfach angerufen und versichert, dass ich auf dem Weg sei und ganz bestimmt noch mit mir zu rechnen wäre. Die ganze Fahrt über war ich davon überzeugt, auf dem Weg zu meinem Hund zu sein, und als ich endlich mitten in der Nacht ankam, begrüßte ich die Koopmanns, die mir im Morgenmantel die Tür öffneten und mich herzlich willkommen hießen, nur mit einem kurz angebundenen „Ja, hallo...“ und fragte sofort nach dem Hund. Nochmals warnten sie mich, nicht enttäuscht zu sein, wenn ich Rosie sehen würde. Sie selbst hätten noch nie einen Hund gesehen, der so kaputt an der Seele sei. Ich antwortete nichts. Ich kann mich noch erinnern, dass ich dachte, dass ich schon viele „kaputte“ Hunde gesehen hatte, also würde mich auch dieser nicht aus der Fassung bringen.
Wir gingen durch den Hausflur, und hinten in einem Eck, abgeschirmt vom Trubel des normalen Alltagsgeschehens, lag Rosie in dem Korb, den ich schon auf dem Foto im Internet gesehen hatte. Stumm, bewegungslos, teilnahmslos, nicht ansprechbar, vollkommen abgetaucht in eine Welt, zu der niemand Zutritt hatte, in der sie niemand erreichen konnte. Dieser Hund hatte gründlich gelernt, sich der Realität zu entziehen. Was war bloß mit ihr geschehen?
Ich erinnerte mich an die Stationen aus Rosies Leben, von denen die Koopmanns wussten und die sie mir schon am Telefon erzählt hatten. Es war nur wenig über ihr bisheriges Leben bekannt, aber dieses Wenige reichte aus, dass ich mir in etwa vorstellen konnte, was sie erlebt hatte. Rosie wurde mit mehreren Collies und diversen anderen Hunden in einer Art ausgebauten Scheune gehalten. Insgesamt waren es um die 20 Hunde, die nur mangelhaft versorgt wurden und kaum Kontakt zu Menschen hatten. Rosie war vermutlich in der Halle geboren worden und hatte diese nie verlassen. Zum Zeitpunkt ihrer Befreiung durch die Beschlagnahmung eines Amtstierarztes war sie schon über fünf Jahre alt. Anhand ihres Gesäuges konnte man sehen, dass sie mit Sicherheit mehrfach Junge gehabt hatte, und im Ort war bekannt, dass ihr Besitzer und sein Gehilfe die Welpen aller Hunde, die regelmäßig kamen, gegen Bargeld oder Bierkisten eintauschten. Und noch etwas war Gesprächsthema hinter vorgehaltener Hand und allgemein bekannt – dass sich zumindest einer der Männer, wenn nicht beide, an den Hündinnen vergingen. Sexueller Missbrauch mit Hunden. Ich hatte bisher nur von Sodomie mit Pferden, Schafen oder Kühen gehört... und fragte mich, wie es denn überhaupt möglich ist, diese perverse Spielart menschlicher Sexualität mit Tieren zu praktizieren, die so kleine Geschlechtsorgane hatten gemessen an der Größe eines männlichen Penis. Aber dann fiel mir ein, dass ja auch nicht vor dem Missbrauch von Säuglingen zurückgeschreckt wird, und auch das ist ja völlig unvorstellbar.
Ja, all das zusammengenommen verstand ich, dass diese Hündin um zu überleben wahrscheinlich lernen musste, sich aus der Realität zu verabschieden. Abzutauchen in eine Welt, in der sie nicht erreichbar war für die Grausamkeit und die Schmerzen, die das Leben für sie bereit hielt.
Ich wurde oft gefragt, ob ich imstande sei, mir vorzustellen, wie ein Mensch so etwas tun konnte – sich an diesem wehrlosen Tier zu vergehen. Oh ja, ich konnte es mir vorstellen. Ich sah vor mir, wie Rosie angstvoll in einer Ecke der Scheune in sich zusammensackte, sobald sie die Schritte des Mannes hörte, der ihr wieder und wieder Schmerzen zufügte. Ich sah vor mir, wie er sie packte, sie an ihrem Fell festhielt, sie schlug, als sie noch die Kraft hatte, sich zu wehren oder doch wenigstens versuchte, zu fliehen und irgendwie davonzukommen. Ja, und ich konnte mir auch vorstellen, wie er von hinten kommend in sie eindrang und bei ihr eine widerliche, kranke Lust befriedigte, bei deren Gedanke und bildlicher Vorstellung mir übel wird. Und gerade deshalb habe ich, haben wir alle nicht das Recht, mit vor das Gesicht geschlagenen Händen aufzustöhnen, dass wir von diesem widerlichen Elend nichts hören wollen. Rosie und all die vielen tausend Namenlosen, für die sie stellvertretend steht, mussten und müssen das ertragen, was wir nicht einmal beim Namen nennen wollen. Öffentlich tabuisiert, auch nur darüber zu reden. Das Verbotene, Kranke, Abstoßende. Und das wird sich niemals ändern, solange wir nicht bereit sind hinzuschauen, dem Ekel ins Gesicht zu sehen, die Dinge beim Namen zu nennen und endlich zu handeln. Denn die Anhänger dieser Praktiken sind da weniger zimperlich, sind im Internet bestens organisiert. Auf Ihren Websites geben sie sich gegenseitig Tipps und Anleitung für die Durchführung eines Verbrechens, das nach deutschem Recht keines ist. Eine gesetzliche Grauzone zu einem Thema, das die Menge so peinlich berührt und deshalb totgeschwiegen wird, dass wir vor lauter Schweigen sogar vergessen, die Täter zu verurteilen, um die Opfer zu schützen.
Ich hatte mir nach all den Schilderungen und Warnungen der Koopmanns versucht auszumalen, was mich erwarten würde, wenn ich Rosie zum ersten Mal gegenüber stehen würde. Ich hatte all die verängstigten Hunde vor Augen, die mir im Laufe der Jahre während meiner Arbeit im Tierschutz oder in meiner Hundeschule vorgestellt wurden, und versucht, mich auf das Schlimmste einzustellen, was ich imstande war, mir vorzustellen. Aber der Anblick dieses Hundes war schlimmer. Dieser Hund hatte keine Hoffnung. Jetzt und hier, in diesem Augenblick, wünschte er sich, tot zu sein, damit der Zustand der immerzu empfundenen Angst einfach aufhörte.
Ich war zu müde, um einen klaren Gedanken zu fassen, und beschloss daher, erst einmal ins Bett zu gehen. Die Koopmanns hatten ein Matratzenlager für mich und meine Begleiterin hergerichtet, auf das ich mich vollkommen erschöpft fallen ließ. Ich erinnere mich noch, dass mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war: „Du hast mich gerufen, ab jetzt bin ich da. Wir sind schon im gleichen Haus. Was immer kommen mag.“
Am nächsten Morgen schaute ich zuerst nach Rosie. Sie lag vollkommen unverändert im Korb, als hätte sie sich die ganze Nacht über nicht bewegt. Die Koopmanns erzählten mir, dass Rosie nur nachts in den Garten ging, wenn es vollkommen still im Haus war und sie ganz sicher war, dass ihr niemand begegnen würde. Dann kam es sogar vor, dass sie mit den anderen Hunden, die ebenfalls aus der Scheune zu Collie in Not e.V. gebracht worden waren, ausgelassen spielte. Ich setzte mich neben sie, streichelte sie und wusste nicht einmal genau, warum ich das tat. Vielleicht in der naiven Vorstellung, sie würde mich plötzlich anschauen und aus ihrer Erstarrung erwachen, wenn sie nur merkte, dass ich es gut mit ihr meinte? Natürlich tat sie das nicht. Sie hatte solche Angst, dass sie sogar den Atem anhielt, solange sie konnte, wenn man näher als etwa zwei Meter an sie heran kam. Daran änderte auch der von mir angewendete Tellington-Touch nichts, der sich sonst immer als Eisbrecher zwischen mir und sehr ängstlichen Tieren bewährt hatte.
Natürlich nahm sie auch keines der leckeren Käse- oder Wurststücke, die ich für sie vorbereitet hatte. Also versuchte ich es anders. Ich steckte ihr ein Käsestück zwischen Lefze und Zahnfleisch in den Mund und entfernte mich für 15 bis 20 Minuten – um den Käse bei meiner Rückkehr genau dort vorzufinden, wo ich ihn deponiert hatte. Sie war so weit weg von uns, von all dem um sich herum, dass sie nicht einmal ein Stück Futter, das ich ihr in den Fang gesteckt hatte, herunterschluckte. Ich war ziemlich verzweifelt.
Vielleicht war es für diese Hündin wirklich das Beste, eingeschläfert zu werden? Konnte es sein, dass ich diesen ganzen Weg zu ihr nur deshalb zurückgelegt hatte, um einzusehen, dass man ihr nur noch damit helfen konnte, sie für immer aus diesem Leben zu verabschieden und auf die lange Reise in den Hundehimmel zu schicken? Die Koopmanns, die Praktikantin und ich grübelten und diskutierten stundenlang, denn keiner von uns ist normalerweise bereit, einen körperlich gesunden Hund zu euthanasieren. Anderseits – konnte man in Rosies Fall denn überhaupt von gesund sprechen? Dieser Hund war krank. So krank an der Seele, wie es ein einsames Wesen auf dieser Welt nur sein konnte.
Auf keinen Fall wollte ich nach nur wenigen Stunden mit ihr eine solche Entscheidung fällen. Schließlich ging es um ihr Leben. Ich bin immer wieder entsetzt, wie leichtfertig manche Menschen den Tod eines ihnen anvertrauten Tieres entscheiden. Das wollte ich nicht. Ich rief Martina Albert an, eine gute Hundetrainerin und langjährige Freundin, und erzählte ihr die ganze Geschichte – und dass ich nun in Ostfriesland vor diesem Hund säße und nicht weiter wisse. Ich bat sie, all ihre Termine abzusagen und auf dem schnellsten Weg herzukommen, was sie auch tat. Auch sie musste ein paar hundert Kilometer zurücklegen, und so dauerte es einen halben Tag, ehe sie eintraf. Auch sie war müde und erschöpft bei ihrer Ankunft und fassungslos von dem Anblick, der sich ihr bot, als sie Rosie in ihrer Ecke liegen sah.
Glaubte Rosie sich unbeobachtet, webte sie mit ihrem schmalen zierlichen Kopf Achterschlingen in die Luft. Sobald sie wahrnahm, dass sie beobachtet wurde, stellte sie sogar diese Bewegung ein.
Wieder versuchten wir, sie zu einer Reaktion zu animieren, indem wir ihr ein Käsestück in den Fang legten und gingen. Nach dem vierten Versuch an diesem Tag war es verschwunden, als wir nach einigen Minuten zurückkamen. Es war tatsächlich weg, sie hatte es gefressen. Können Sie sich mehrere erwachsene Menschen vorstellen, die zu Tränen gerührt feststellen, dass ein Hund es geschafft hatte, ein Stück Käse herunterzuschlucken?! Ich fragte mich, wie es nun weitergehen sollte und wie bedeutungsvoll diese erste Regung von ihr wohl war, da brachte es Martina auf den Punkt. Sie sagte: „Es ist noch Leben in ihr... und wo Leben ist, ist Hoffnung. Du hast mich gebeten, hierher zu kommen, damit ich Dir rate, was Du tun sollst. Mein Rat ist, gib diesen Hund nicht auf. Versuch, Rosie zu helfen. Ich weiß auch nicht, wie. Aber es ist noch Leben in ihr...“ Schon während sie sprach, wusste ich, dass sie Recht hatte. Jegliche Überlegung über eine eventuelle Einschläferung verbot sich, seit Rosie das Stück Käse heruntergeschluckt hatte. Es war Leben in ihr.
Ich ging mit Ruhe und in vollkommener Klarheit zu den Koopmanns in die Küche und erzählte ihnen, was geschehen war und dass ich mich entschlossen hätte, Rosie aufzunehmen und alles zu versuchen, sie zurück in ein gutes Leben zu bringen. Natürlich war vollkommen klar, dass ich diesen Hund nicht einfach ins Auto setzen und mitnehmen konnte. Es gab eine Menge vorzubereiten. Zunächst besorgte ich aus einer nahe gelegenen Tierklinik Medikamente, die Rosies Nervenkostüm in eine Art Wattebausch packten. Die Anflutung des Mittels würde mehrere Tage dauern, und so fuhr ich nach Hause, um dort alles vorzubereiten. Das Grundstück musste so gesichert werden, dass Rosie bei eventuellen Panikattacken nicht flüchten konnte. Alle Teppiche wurden verräumt, denn zumindest in der ersten Zeit war nicht damit zu rechnen, dass Rosie stubenrein sein würde. Nach zahllosen Telefonaten zwischen Ostfriesland und Südbayern wurde sie schließlich am 26. Dezember 2000 zu uns gebracht. Klaus Koopmann fuhr den langen Weg mit ihr, und als die beiden ankamen, waren wir alle erstaunt, wie scheinbar gut sie die Reise überstanden hatte. Sie ließ sich aus dem Auto in den Garten und – nach einer langen Pfütze – von dort ins Haus tragen. Dort lief sie zwar geduckt und hektisch herum, suchte sich dann aber relativ schnell eine ruhige Ecke und legte sich auf eine Decke, die wir dort bereit gelegt hatten. Schon glaubten wir, das Schlimmste sei vielleicht doch schon überstanden und alles würde doch einfacher, als bisher angenommen. Die folgende Nacht zeigte, dass wir mit dieser Hoffnung vollkommen falsch gelegen hatten.
Rosie beantwortete den Stress des Transportes und des Ankommens in einer fremden, nicht vertrauten Umgebung mit einem Zusammenbruch des Immunsystems. Sie bekam blutigen Durchfall und erbrach sich in stündlichen Abständen blutig. Sogar ihre Tränenflüssigkeit war rötlich gefärbt, da die Äderchen im Augenhintergrund platzten. Wir waren sehr erschrocken, holten natürlich sofort den Tierarzt – an einen Transport von Rosie war ja gar nicht zu denken – und der stand nach unzähligen Untersuchungen und Laborbefunden ebenso ratlos wie wir vor der Tatsache, dass dieser Hund, der vor unseren Augen regelrecht ausblutete, klinisch gesund war. Die Kot- und Urinproben waren in Ordnung, keine Verwurmung, kein bakteriologischer oder mykotischer Befund, und auch die Blutwerte deuteten auf keine spezielle Erkrankung hin. Sie blutete einfach, wurde immer schwächer. Der Durchfall und das Erbrochene gaben einen bestialischen Gestank von sich, der inzwischen unser ganzes Haus erfüllte und uns nachts oft weckte. Als Burkhard und ich die dritte beinahe schlaflose Nacht damit verbrachten, Kot, Urin und Erbrochenes vom Boden unseres frisch renovierten Hauses zu putzen, fragte ich mich, wie lange er das wohl noch mitmachen würde. Wir waren erst seit ein paar Monaten ein Paar, und ich wusste zwar, dass er sehr tierlieb und sehr geduldig war, aber andererseits war ich mir nicht sicher, wie lange er einer derartigen Belastungsprobe standhalten würde. Während wir also in Nachthemd und Schlafanzug auf allen Vieren über den Fußboden putzten und ich gerade diesen düsteren Gedanken nachhing, ob er auch solche Härten mit mir bereit zu leben war, sagte er gegen 3.00 Uhr morgens in all dem Chaos zu mir: „Gut, dass Rosie zu uns gekommen ist. Wer weiß, ob andere Leute das mitgemacht hätten.“
Was für ein Mann! Einfach, ruhig und klar wischte er mit diesem einen Satz all meine Sorgen um die verdreckte Küche, die schlaflosen Nächte und meine erst vor kurzem begonnene Ehe weg. Er war an meiner Seite, verstand, dass ich niemals aufgeben würde, und hatte auch selbst keinen Zweifel daran, dass dieser Hund zu uns gehörte und all das hier irgendeinen Sinn hatte, den wir vielleicht noch nicht ganz verstanden, der aber in jedem Fall da war.
Der Tierarzt kam täglich vier- bis fünfmal, um nach Rosie zu sehen. Sie wurde zusehends schwächer, aber sie kämpfte, und da war etwas Neues in ihrer Ausstrahlung – sie wollte leben. Am fünften Tag ließen Durchfall und Erbrechen nach, ab dem siebten Tag konnte Rosie wieder löffelweise breiige Nahrung zu sich nehmen. Nach insgesamt zwölf Tagen war sie über den Berg. Und nun begann die eigentliche Arbeit, denn es galt, Rosie in unseren Alltag zu integrieren.
Sie lernte in winzigen Schritten. Der erste Schritt war, dass sie selbstständig in den Garten ging, wenn auf dem Weg dorthin niemand zu sehen war. Sie musste durch die Küche, in der sie sich während ihrer Krankheit ihren Stammplatz ausgesucht hatte, den sie bis zu ihrem Tod einige Jahre später beibehielt, über den Flur, durch den Rahmen der Haustür nach draußen. Wir öffneten also alle Türen weit, gingen in ein an den Flur angrenzendes Zimmer oder klemmten uns zwischen Tür und Flurwand, bis sie durchgesaust war. Dass alles bereit und niemand mehr im Weg war, signalisierten wir ihr durch ein langgezogenes „Rosiiiiie“, bei dessen Ertönen sie sich auf den Weg machte. Nach einigen Wochen wurden diese Gänge durch die Küche und über den Flur ruhiger, nicht mehr so gehetzt, und sie genoss es sichtlich, im Garten zu sein. Die Haustür unseres Hofes stand immer offen, Tag und Nacht, damit die Hunde und Katzen jederzeit raus konnten. Eines Morgens wurde ich wach und schaute durch das Küchenfenster nach draußen, während ich mir meinen morgendlichen Tee kochte. Es war etwa 5.00 Uhr in der Früh, und auf der taufrischen Wiese im Garten wälzte sich Rosie, strampelte mit allen Vieren in der Luft und hatte zum ersten Mal ein Lächeln im Gesicht. Nach einer Weile stand sie auf, schüttelte sich und lief schnüffelnd durch den Garten. Als sie mich sah, fuhr sie kurz zusammen, aber da ich mich nicht weiter rührte, ging sie dann doch weiter durch den Garten und kam schließlich wieder rein, um sich auf ihren angestammten Platz zu legen.
Wie bringt man einen solchen Hund dazu, mit spazieren zu gehen? An ein Losgehen von zu Hause aus war natürlich nicht zu denken. Noch immer hatte Rosie mehrere Panikattacken täglich, die durch Nichtigkeiten wie ein flatterndes T-Shirt, das zum Lüften herausgehängt worden war, oder ein bestimmtes Geräusch ausgelöst werden konnten, und wenn sie in Panik kam, dann rannte sie. Wir mussten also ein Gelände finden, dass ein solches Rennen möglich machte, ohne sie in Gefahr zu bringen; denn alle Auslöser für eine Angstattacke auszuschließen, war unmöglich. Aber wie kriegten wir sie ins Auto, um zu einem solchen Gelände zu kommen? Rosie zu tragen, war praktisch unmöglich, denn das wurde meist mit Angstkoten beantwortet. Nach langen Überlegungen und Diskussionen fuhren wir unseren Wagen durch den Garten ganz dicht vor die Terrassentür, die von der Küche nach draußen führte. Dann folgte der vertraute Ruf „Rosiiiie“. Wir hofften, dass sie einfach den anderen Hunden hinterher in das Auto springen würde, wenn es keinen anderen Weg gab. Allerdings kam uns dieser Plan sehr verwegen vor, und es war eher der Mut der Verzweiflung, der uns das probieren ließ. Es klappte! Rosie zögerte zwar einen Augenblick, sprang dann aber zu Elsa und Chenook ins Auto. Wir fuhren in ein weitläufiges Waldgebiet und öffneten mit klopfenden Herzen die Autotür. Was, wenn sie anfing zu laufen und sich nicht mehr einfangen ließ? Aber welche Chance hatten wir sonst? Ihr ein Brustgeschirr und eine Leine anzulegen, war zu diesem Zeitpunkt undenkbar! Ich hatte es einmal im Garten versucht. Schon das Anlegen des Geschirrs war schwierig, Rosie erstarrte sofort und tauchte wieder in die Leere des Seins ab. Schließlich lief sie durch den Garten zurück auf ihren Liegeplatz in der Küche, fing dort aber augenblicklich damit an, dieses ungewohnte Ding an ihrem Körper anzuknabbern. Beim nächsten Versuch hängte ich eine sehr lange Leine an das Geschirr, um sie an das Körpergefühl der Begrenzung zu gewöhnen. Als sie das Ende der Leine erreichte und bemerkte, dass sie „gehalten“ wurde, drehte sie vollständig durch. Sie sprang wie ein Wildpferd in die Leine, schrie, kotete und war nicht mehr ansprechbar. Ich ließ die Leine nach wenigen Sekunden los, Rosie raste in die Küche und verkroch sich den Rest des Tages. Sie ging nicht einmal mehr in den Garten.
Es blieb uns also gar nichts anderes übrig, als sie mit den anderen laufen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass sie sich Elsa und Chenook schon so weit angeschlossen hatte, dass sie den beiden einfach hinterherlief und alles machte, was die taten – und so war es auch. Am Ende des Spaziergangs sprangen Elsa und Chenook wieder in das Auto, und Rosie tat es ihnen nach, obgleich es ihr schwer fiel und sie zuerst mehrfach von einer Pfote auf die andere auf der Stelle getreten war, ehe sie schließlich zum Sprung ansetzte. So liefen die Spaziergänge viele Monate lang, immer nach dem gleichen, ihr Sicherheit gebenden Ritual: alle zusammen einsteigen, Auto fahren, alle zusammen aussteigen, alle zusammen spazieren gehen, alle zusammen einsteigen, Auto fahren, alle zusammen aussteigen. Das alles lief perfekt, solange alles genau geplant und an seinem Platz war. Aber schon kleinste Veränderungen brachten Rosie vollkommen aus dem Konzept, und sei es nur, dass das Auto andersherum stand oder drei Meter weiter geparkt war als gewohnt.
Als Rosie etwa fünf oder sechs Monate bei uns war, wurde sie läufig. Dabei hielt sie sich so sauber, dass wir das erst bemerkten, als sie sich mit Chenook paarte. Denn auch der hatte keine besonderen Anstalten gemacht. Wozu auch? Schließlich musste er seiner Angebeteten nicht nächtelang nachjaulen, wie er es sonst tat, denn die lag ja neben ihm auf dem Teppich. Auch das noch! Was nun?
Normalerweise bin ich überhaupt kein Freund von der Idee, noch mehr Hunde in die Welt zu setzen, als es eh schon gibt. Immer wieder diskutiere ich auf meinen Seminaren über die Unsinnigkeit der Zucht, solange allein in deutschen Tierheimen über 300.000 Hunde auf ein neues Zuhause warten. 300.000 verlorene Seelen, die dringend darauf warten, von einem Menschen gefunden und geliebt zu werden. Wer will da mit welchem Argument rechtfertigen, noch mehr Hunde zu produzieren?!
Andererseits bin ich auch kein großer Anhänger der Abtreibung – weder beim Menschen noch beim Tier. Sicher gibt es Situationen oder medizinische Indikationen, die eine Abtreibung rechtfertigen, und es liegt mir vollkommen fern, über andere zu urteilen, die sich aus gutem Grund – oder auch leichtfertig und wenig durchdacht – für eine Abtreibung entscheiden. Aber dennoch ist das für mich ein schwieriges Thema, das ich nicht „einfach so“ entscheide. Ich war mir ziemlich sicher, dass Rosie erfolgreich gedeckt worden und nun tragend war. Die Flut von ungewollten Hunden ließen mich an eine Kastration mit Abtreibung denken, der Gedanke an das ungeborene Leben in Rosies Bauch davor zurückschrecken. Während meiner Tätigkeit in verschiedenen Tierarztpraxen hatte ich diese Operation dutzendfach selbst mit durchgeführt und wusste daher ganz genau, wovon ich sprach. Es ist kein schöner Anblick, wenn die bereits mit Kopf und Pfötchen entwickelten Jungen, die man durch die Gebärmutterhaut atmen sehen kann, herausgeschnitten und einfach entsorgt werden. Meiner Meinung nach sollte man das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Und dann kam mir noch ein Gedanke: In all diesem Elend, in dem Rosie in dieser Scheune gelebt hatte, dem Missbrauch ihres Besitzers ausgesetzt, hatte sie doch mehrfach Junge gehabt. Vielleicht war das etwas, das sie nicht nur kannte, sondern auch liebte?! Vielleicht hatte die Aufzucht der Jungen sie am Leben gehalten? Turid Rugaas, eine bekannte Trainerin aus Norwegen, war gerade bei uns zu Besuch, und wir diskutierten viel über all diese verschiedenen Aspekte des Themas. Schließlich sagte sie mir, dass sie glaube, dass es gut für Rosie sein würde, die Jungen zu bekommen und sich dieser Aufgabe widmen zu können. Ich fühlte das Gleiche, und so beschlossen wir, sie nicht operieren zu lassen.
Tatsächlich beobachteten wir, dass sich Rosie durch die Trächtigkeit veränderte. Ihre Bindung an Chenook wurde viel intensiver und enger. Wo er war, war sie. Es war rührend und anmutig zugleich. In der vierten Trächtigkeitswoche fiel mir auf, dass Rosie unruhig war, stark hechelte, viel trank und offensichtlich Kreislaufprobleme hatte. Ich berührte ihre Schnauze, die heiß und trocken war. Sofort holte ich das Fieberthermometer und maß fast 41°C! Ab in die Tierklinik. Die Föten waren abgestorben, befanden sich in jaucheähnlichem Zustand in Rosies Bauch, es war zu einer Infektion gekommen. Operiert werden konnte sie nicht, solange das Fieber so hoch war. Wir mussten es schnell herunterbekommen, denn viel Zeit zum Warten hatten wir auch nicht. Ich drehte damals gerade das Video „Gemeinsam unterwegs“, die Filmcrew stand um mich herum, während ich um das Leben meines Hundes bangte, weinte, verzweifelte, versuchte, mich wieder zusammenzureißen und wieder ein Stück des Drehbuchs abzuarbeiten. Es war grauenhaft. Und in all diesem Chaos wurde ich auf einmal ruhig und wusste, dass Rosie nicht sterben würde. Nicht hier und jetzt, ihre Zeit war noch nicht gekommen. Ich kann nicht erklären, woher diese Gewissheit plötzlich kam. Es war wie eine innere Stimme, Intuition – ich hinterfrage es nicht, ich nehme es an und vertraue darauf, dass es schon irgendwie richtig ist.
Rosie hat die Operation überlebt und war schon wenige Tage später wieder recht munter, wollte sogar mit spazieren gehen. Sie blieb immer in Chenooks Nähe, schnüffelte interessiert am Wegesrand und genoss es offensichtlich, sich morgens in das taufrische Gras zu legen.
Genau ein Jahr nach ihrer Ankunft bei uns, am 26. Dezember 2001, bellte sie das erste Mal. Ich war nicht dabei, welche Enttäuschung. Burkhard rief mich ganz aufgeregt vom Spaziergang am Flussufer aus an und sagte: „Stell Dir vor, Rosie hat gerade ein Mal gebellt.“ Ich konnte es gar nicht fassen und fragte natürlich genau nach allen Details. Er hatte für Chenook und Elsa ein paar Schneebälle geworfen, denen diese mit lautem Gekläff hinterherjagten. Durch die aufgekratzte Stimmung angesteckt, bellte plötzlich auch Rosie. Aufgeregt rief ich bei den Koopmanns an, um ihnen die Neuigkeiten zu berichten. Immer wenn Rosie sich weiterentwickelte, irgendetwas Besonderes in ihrem Leben passierte, rief ich sie an, und so hatte sich inzwischen eine Freundschaft entwickelt, obwohl wir uns nur einmal persönlich begegnet waren. Am Telefon sprachen wir über viele, auch sehr persönliche Dinge, und jedes Gespräch begann und endete immer mit Rosie.
Die hatte inzwischen viele Fortschritte gemacht. Sie hatte sich an das Tragen eines Brustgeschirres gewöhnt und konnte auch schon an einer drei Meter langen Leine gehen. Das Auto musste nicht mehr direkt vor die Tür gefahren werden, sondern Rosie ging mit den anderen durch den Garten über den Hof zum Wagen und stieg dort ein. Sie bewegte sich in der Wohnung von einem Raum in einen anderen, blieb nicht mehr ausschließlich auf ihrem Stammplatz in der Küche. Wir konnten sie streicheln, ohne dass sie zusammenzuckte oder die Luft anhielt – sie genoss es sogar, wenn man sie sanft berührte. Wenn ich Veranstaltungen im Haus hatte, holten wir sie manchmal in den Seminarraum. Hierzu mussten alle ganz still sein. Dann kam Rosie vorsichtig herein, legte sich in einen der herumstehenden Körbe und fand es offensichtlich gut, dabei zu sein. Sie nahm inzwischen auch angebotene Leckerchen, und der Höhepunkt der Fressensentwicklungsstufe war erreicht, als sie das erste Mal klaute! Ich war überglücklich! Dieser Hund, der noch immer die meiste Zeit seines Lebens ruhig und still auf seiner Decke lag, hatte Initiative gezeigt und sich ein großes Stück Käse vom Tisch geklaut, als niemand in der Küche war. Toll! Super! Sofort rief ich die Koopmanns, Turid und Martina an, um ihnen diese großartigen Neuigkeiten zu erzählen. Während dieser Telefonate wurde mir bewusst, dass ich wunderbare Menschen zu meinen Freunden zähle, die sofort verstehen, warum ich mich so sehr darüber freuen kann, dass ein Hund Futter vom Tisch geklaut hat. Alle waren begeistert und freuten sich über Rosies Erfolg.
Es gab noch weitere Fortschritte in diesem ersten Jahr. Im Umgang mit anderen Hunden war sie wundervoll. Sanft und zurückhaltend kam sie einfach mit jedem gut aus. Deshalb hatte ich sie schon ein paarmal mit auf den Hundeplatz genommen, wenn ich Gruppenstunde hatte. Sie durfte auf dem 10.000 m² großen, eingezäunten Gelände herumlaufen und hatte Kontakt zu Menschen und Hunden. Die Kunst bestand anfangs darin, sie wieder an die Leine zu bekommen, wenn ich gehen wollte. Ich näherte mich ihr immer mit ihrem „Spezialruf“: „Rosiiie“, und ging langsam auf sie zu, während ich ihr die Leine deutlich sichtbar zeigte, damit sie einschätzen konnte, was ich von ihr wollte. Meistens klappte das ganz gut, und ich hatte sie innerhalb von zwei bis drei Minuten an der Leine. Sie ließ sich dann hinfallen, wo sie gerade war und wartete mit geducktem Kopf, bis der Karabiner eingehängt war. Dann rappelte sie sich wieder hoch und lief mit mir mit. Aber einmal kam es zu einem Zwischenfall: Jemand hatte das Haupttor für wenige Sekunden offen gelassen, als Rosie gerade in der Nähe war. Sie lief hinaus und fand sich plötzlich in einer nicht ritualisierten und unbekannten Situation wieder, was eine Panikattacke bei ihr auslöste. Sie fing an zu rennen. Ich rannte ihr nach, so schnell ich konnte, aber natürlich war sie viel schneller. Und um so mehr ich hinter ihr herrannte, um so schneller wurde sie. Denn bei allen Fortschritten blieb ihr eines bis zum Tod: Sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand hinter ihr war, geschweige denn sich dabei noch annäherte. Die Erinnerung an den Missbrauch war offensichtlich sofort präsent. Man konnte sehen, wie sie vollkommen durchdrehte, wenn jemand hinter ihr stand oder lief – insbesondere, wenn dies ein Mann war. Ansonsten hatte sie übrigens erstaunlicherweise vor Männern nicht mehr oder weniger Angst als vor Frauen, was mich eigentlich wunderte. Es hatte also keinen Sinn, weiter hinter ihr her zu rennen und sie dabei nur immer weiter vorwärts zu treiben. Ich lief zurück zum Auto, fuhr um den Häuserblock herum und kam so schließlich vor sie. Ich stieg aus, versuchte sie durch Rufen in ihrer abgetauchten Wahrnehmung zu erreichen, doch sobald sie mich sah, sauste sie kreuz und quer durch das Viertel. Sie rannte quer über die Straße, durch Gärten, wieder auf die Straße und schließlich geradewegs auf die Bahnschienen zu. Ich hatte mindestens so viel Panik wie sie und wählte schließlich die einzige Möglichkeit, die ich in diesem heillosen Durcheinander noch sah, indem ich mich mit einem Hechtsprung auf sie stürzte und die Leine einhängte. Es war furchtbar. Rosies entsetzter Augenausdruck, als ich sie packte und festhielt. Sie schrie, versuchte zu entkommen. Blieb schließlich regungslos auf dem Asphalt liegen, als sie merkte, dass sie nicht weg kam. Sofort schoss mir durch den Kopf: „So ungefähr muss es in der Scheune zugegangen sein, wenn er kam...“ Ich trug sie zurück ins Auto und weinte fast die ganze Rückfahrt, weil ich immerzu an die Todesangst in ihren Augen denken musste, als ich mich auf sie geworfen hatte. Tausendmal entschuldigte ich mich bei ihr und versuchte ihr zu erklären, dass ich einfach verhindern musste, dass sie auf die Schienen lief. Ich hatte Angst, ihr Vertrauen für immer verloren zu haben. Zu Hause angekommen sauste sie auf den Stammplatz in der Küche und schlief stundenlang. Es war ein unruhiger Schlaf, sie träumte viel, winselte, lief mit ihren zarten Colliepfötchen. Wohin wohl? Fort von ihm, fort von mir oder fort vor ihrer Erinnerung? Ich weiß es nicht... Am nächsten Tag benahm sie sich wieder wie immer, und mir fiel nicht nur ein Stein, sondern ein ganzer Felsbrocken der Erleichterung vom Herzen.
Wieder vergingen einige Monaten der vielen kleinen Wunder, die jeder Entwicklungsschub mit sich brachte. Eines Tages begann Rosie, mit den anderen Hunden zu rennen, wenn diese bei einem Spaziergang oder im Garten tobten. Sie bellte dabei aus vollem Herzen, schmiss sich bei der Morgenrunde ins taufrische Gras und strampelte voller Lebenslust bellend mit den Pfötchen in der Luft. Inzwischen war Jule bei uns eingezogen. Jule ist eine Mischung aus Dalmatiner und Whippet, die ihr Zuhause verloren hatte, weil ihrem zuckerkranken Herrchen beide Beine amputiert werden mussten und er sich deshalb nicht mehr um sie kümmern konnte. Er liebte den Hund über alles, behandelte sie gut, hatte aber in ihrer Ernährung und Erziehung viele Fehler gemacht. So war sie nicht nur sehr dick, sondern auch übermäßig ängstlich, weshalb sie jeden Menschen und einige Hunde anknurrte. Außerdem war sie nicht stubenrein und bellte aufgrund ihres schwachen Nervenkostüms viel. Mit anderen Worten: Sie war nicht gerade ein Vorzeigehund, als es darum ging, ein neues Zuhause für sie zu finden. Ihr Besitzer dachte schon ernsthaft darüber nach, den Hund und sich selbst umzubringen, denn der Gedanke, seine heiß geliebte Hündin in ein Tierheim zu stecken, war ihm unerträglich. Über eine befreundete Trainerin, die von der ganzen Geschichte hörte, kam Jule zu uns, und so erweiterte sich unser Hundebestand auf vier. Die Eingliederung des Neuankömmlings in die bereits bestehende Gruppe war unspektakulär, und so gingen wir nun mit einem Hund mehr spazieren. Jule versuchte oft, Rosie zum spielen zu animieren, aber Rosie ging darauf nur selten ein. Entweder war sie bei Chenook, oder sie schnüffelte vor sich hin und hing ihren Gedanken nach.
Es wurde Herbst, und die Walnussbäume in unserem Garten hingen voll mit Früchten. Elsa, Jule und Chenook „grasten“ oft regelrecht unter den großen Bäumen, knackten sich Nüsse, fraßen begeistert das Innere und spuckten die Schalen wieder aus. Häufig fand ich auch morgens in den Körbchen Nussschalen, von denen ich vermutete, sie stammten von Elsas nächtlichen Ausflügen zu den Bäumen. Weit gefehlt! Eines Nachts, so gegen 3.00 Uhr, wurde ich wach. Als ich durch das Haus taperte, fiel mir auf, dass Rosie nicht zu sehen war. Also schaute ich wieder durch das Küchenfenster in den Garten, ob sie irgendwo zu sehen war. Was ich dann beobachtete, erstaunte mich wirklich. Sie lief unter dem Baum herum, sammelte zwei bis drei Walnüsse in ihrem Fang, trug sie in den großen Korb im Flur, knackte sie in aller Ruhe, fraß das Innere und holte die nächsten Nüsse. Unglaublich! Woher konnte sie das?! Wie kam ein Hund, der den größten Teil seines Lebens in einer Scheune weggesperrt worden war, auf diese Idee, dieses zielgerichtete Handeln? Woher wusste sie, dass sie Walnüsse mochte? Hatte sie das Knacken und Fressen den anderen Hunden abgeschaut und dann einfach selbst ausprobiert? Ein Rätsel – und ein Geschenk, das alles beobachten zu können. Denn Rosie war ja nicht „nur“ missbraucht worden, sondern war zusätzlich auch noch den Großteil ihres Lebens eingesperrt gewesen und litt unter dem so genannten Kaspar-Hauser-Syndrom, das
man auch als Deprivationsschaden bezeichnet. Das bedeutet, dass dieser Hund in seinen wichtigsten lernintensiven Phasen der Welpen- und Jugendentwicklung kaum Möglichkeiten hatte, irgendetwas kennen zu lernen, und deshalb die einfachsten Dinge für ihn angstbesetzt waren.
In der kynologischen Fachliteratur findet sich immer wieder, dass diese Hunde zeitlebens problematisch bleiben, oftmals angst-aggressiv werden, meistens gar nicht in ein normales Leben geführt werden können, weil sie den einfachsten Umweltansprüchen nicht gerecht werden können. All das stimmt nicht. Rosie holte nach – und das Interessante war, dass dies immer in Schüben passierte. Ganz lernintensive Phasen, in denen sie sich deutlich weiterentwickelte. Und dann wieder Ruhephasen, in denen sich das nun wieder neu Hinzugelernte offensichtlich setzen und festigen musste. Und diese Schübe kamen und gingen bis zu ihrem Tod. Erst eine Woche, bevor sie starb, setzte sie sich mit uns und den anderen Hunden auf den Teppich vor den brennenden Kamin und zeigte ganz deutlich, dass sie dicht bei uns sein wollte. Nach mehr als vier Jahren zum ersten Mal.
Rosies Vertrauen in uns und vor allem Chenook war inzwischen so weit gefestigt, dass sie sogar mit uns auf Reisen ging. Mehrfach hatten wir sie mit dabei, wenn wir zu Hundewanderungen in den Bayerischen Wald aufbrachen. Auch die Wanderungen selbst ging sie mit – immer darauf bedacht, dass kein menschliches Wesen hinter ihr lief... Solange sie das Schlusslicht der Gruppe bildete, ging es ihr gut. Völlig egal war es ihr übrigens, ob ein anderer Hund oder eine unserer Katzen hinter ihr lief.
Als Rosie etwas mehr als zweieinhalb Jahre bei uns war, bekam sie plötzlich hohe Fieberschübe, fraß nicht mehr und machte einen vollkommen geschwächten Eindruck. Natürlich sausten wir wieder sofort mit ihr in die Tierklinik. Die Diagnose klang zunächst nicht so schlimm: Borreliose. Wir wissen, dass wir in einem Gebiet mit sehr vielen Zecken leben, von denen auch viele Träger dieser Krankheit sind, und ich kannte aus meinem Kundenkreis einige Hunde, die Borrelioseträger waren, ohne lebensgefährlich zu erkranken. Aber bei Rosie war es leider nicht so. Die Krankheit nahm innerhalb kürzester Zeit einen dramatischen Verlauf. Ihre Gelenke schwollen an und schmerzten. Ihr Kopf und ihre Beine schwollen sogar so stark an, dass die Haut aufplatzte und das darunter liegende Gewebewasser ablief. Es sah aus, als würden sich kleine Bäche ihren Weg über Rosies Kopf bahnen. Das Ganze war immer wieder von extrem hohen Fieberschüben begleitet und zog sich trotz intensiver Behandlung über viele Wochen. Zweimal wäre sie beinahe gestorben, rappelte sich aber immer wieder hoch. Dreimal stand ich vor ihr und fragte mich, ob ich sie nicht einschläfern lassen sollte, um ihr weiteres Leid zu ersparen, aber ein Blick in ihr verquollenes Gesicht reichte aus, um mich wissen zu lassen, dass sie leben wollte. Es war unglaublich. Nie zuvor habe ich einen Hund erlebt, der bei so schwerer Krankheit und so großen Schmerzen derart in sich ruhend und klar „Ja“ zum Leben sagte. Ich fragte mich, woher sie diese Kraft und Stärke nahm, und auf einmal wusste ich es. Ich hatte Rosie vom Tropf abgehängt, damit sie aufstehen und ein wenig herumlaufen, eventuell sogar in den Garten gehen konnte, und tatsächlich rappelte sie sich hoch – und ging zu Chenook, der einige Meter von ihr entfernt lag. Mit einem Aufstöhnen ließ sie sich neben ihn fallen, worauf er sie vorsichtig beschnupperte und mit seiner ruhigen Art einfach bei ihr war. Sie liebte ihn, sie liebte ihn abgöttisch, und ich bin überzeugt davon, dass er der Grund dafür war, dass sie unbedingt weiterleben wollte. Sie hatte ihre große Liebe gefunden.
Rosie wurde zunächst wieder gesund, und die Bindung zu Chenook war durch die Zeit der Krankheit noch enger geworden. Wo immer er war, war sie. Stand er auf, um den Raum zu wechseln, ging sie mit. Ging er in den Garten oder in den ersten Stock, lief sie ihm nach. Ja, auch das Treppensteigen hatte sie so innerhalb kürzester Zeit gelernt. Er ging hoch, und sie wollte bei ihm sein, also ging sie ihm nach. So lernte sie das Treppensteigen.
Es folgten einige ruhigere Monate, in denen alles seinen gewohnten Gang lief. Rosie verzauberte mit ihrer Art einfach jeden Menschen, der sie kennen lernte. Viele Freunde, Verwandte, Seminarteilnehmer, Hundeschulenbesucher, selbst Handwerker, die aus irgendeinem Grund ins Haus kamen, waren fasziniert von ihrem Wesen. Bei allem Dreck, all dem Elend, das sie durchlebt hatte, war sie nur sanft und gut. Die Energie, die sie ausstrahlte, entsprach der reinen Liebe, wie wir sie in verschiedenen Religionen, Mythen und Sagen beschrieben finden. Sie hat viele Menschen Güte und Verzeihen gelehrt.
Sie selbst lernte immer weiter. Inzwischen wusste sie, wie man die Klickverschlüsse an den Schultaschen der Auszubildenden öffnet! Die eilig entwendeten Pausenbrote wurden in ruhige Ecken des Gartens getragen und sorgfältig ihrer Verpackungen entledigt, bevor sie gefressen wurden. Oft habe ich gesehen, wie die „Bestohlenen“ mit vor Rührung leuchtenden Augen zugesehen haben, wie Rosie auf Diebestour ging und eilig mit ihrer Beute davon zog. Ich erinnere mich noch an einen Tag, als ihr ganzes Fell über und über mit Zuckerguss verklebt war, weil sie das Gebäck einer Mitarbeiterin stibitzt hatte. Mit liebenswürdiger Miene legte sie sich wieder auf ihre Decke im Büro, als sei gar nichts. Wir alle liebten diese Momente und freuten uns so sehr über ihre Fortschritte. Bei den Spaziergängen bellte sie inzwischen wie verrückt. Oft rief ich bei den Koopmanns an, um ihnen zu erzählen, dass wir jetzt gerade im Schnee tobten oder bei Sommerhitze badeten, und sie hörten Rosie im Hintergrund bellen, die voller Begeisterung die Hänge rauf und runter sauste. Es war wundervoll.
An einem heißen Sommertag gingen Burkhard und ich mit den Hunden im beinahe ausgetrockneten Flussbett spazieren. Der Wasserstand war so niedrig, dass nur eben die Füße umspült wurden. Im Hintergrund war die Bergkette zu sehen, Wald und Wiesen um uns herum – ein Schauspiel der Natur, soweit das Auge reichte. Alle Hunde tobten im Wasser, Rosie spielte ausgelassen mit Chenook, Elsa, Jule und Shorty (Hund Nummer fünf, der inzwischen bei uns lebte) liefen durch das seichte Wasser. Es war einer der goldenen Augenblicke meines Lebens, und ich werde den tiefen Frieden und das große Glück, das ich in diesem Moment empfand, nie vergessen. Welch ein Privileg, so leben zu können. In dieser wunderschönen Gegend, mit all den Tieren, die hier bei uns ihr Glück und ihren Frieden gefunden haben, und mit dem Mann an meiner Seite, den ich liebte und der mich liebte. Unweigerlich dachte ich an Rosie. Auch ich hatte schon die Schattenseiten des Lebens kennen gelernt und wusste dieses Glück um so mehr zu schätzen. Ob es ihr genauso ging, ob sie ähnlich fühlte?
Einige Tage später geschah wieder etwas Besonderes. Rosie schaute mir zum ersten Mal ins Gesicht, nahm direkt Blickkontakt mit mir auf. Dreieinhalb Jahre lebte sie nun bei uns, ehe sie mich das erste Mal direkt anschaute. Ganz ruhig, einen Moment lang. Dann schaute sie wieder weg. Es blieb das einzige Mal in all der Zeit, die wir miteinander lebten.
Unser Tierarzt sagte immer, dass Rosie so viel durchlebt und überlebt hatte, so viele Krankheiten überstanden, dass sie sicher steinalt werden würde. Leider hat er nicht Recht behalten. Das lange Ende begann mit einem merkwürdigen Geräusch, das Rosie beim Schlucken produzierte. Irgendwann fiel es mir auf. Es hörte sich beinahe an, als ob jemand bei geschlossenem Mund rülpsen würde. Merkwürdig hohl. Innerhalb von ein, zwei Wochen war es deutlich öfter zu hören, und so machte ich mich wieder auf den Weg in die Tierklinik. Zunächst wusste keiner der Ärzte etwas mit diesem komischen Geräusch anzufangen. Rosies Blutwerte waren gut, sie fraß bei absolut gesegnetem Appetit – wenn auch begleitet von diesen Geräuschen – und war munter wie immer. Die Hinterhand schleifte und wackelte ein ganz klein bisschen mehr als sonst, aber das war für einen Hund in ihrem Alter (sie war inzwischen neun Jahre alt) nicht so außergewöhnlich, dass es uns Sorgen gemacht hätte. Aber dann kam ein Verdacht auf, der mir den Hals zusammenschnürte. Mysathenia gravis, eine Krankheit, die zwar selten, aber gerade bei Collies eben doch manchmal vorkommt. Die Symptome äußern sich – medizinisch laienhaft ausgedrückt – ähnlich wie bei der Multiplen Sklerose beim Menschen. Die Muskeln erschlaffen nach und nach – und unaufhaltsam. Bei Rosie am stärksten an der Hinterhand und an der Speiseröhre. So entstand ein so genannter Mega-Ösophagus, eine erschlaffte und dadurch extrem geweitete Speiseröhre. Die Speiseröhre ist ein Schlauch, der sich durch Kontraktion der Muskeln weitet und wieder verengt und damit den Futterbrei nach unten abschluckt und den Eingang zum Magen öffnet und wieder verschließt. Das merkwürdige Geräusch, das wir seit Wochen hörten, entstand dadurch, dass die Muskeln immer mehr erschlafften und sich dadurch viel Luft in der lose hängenden Speiseröhre befand. Der Mageneingang schloss sich nicht mehr richtig, weshalb Magensäure in die Speiseröhre aufstieg und deren Schleimhaut regelrecht verätzte. Diese Krankheit war nicht heilbar, im besten Falle war sie zeitlich hinauszuzögern. Ich fragte den Tierarzt, wie viel Zeit Rosie noch habe, aber er wagte keine Prognose. Es gibt Hunde mit Mega-Ösophagus, die bei spezieller Fütterung jahrelang weiterleben können. Aber bei Rosie war der Krankheitsverlauf extrem und bezog sich außerdem nicht nur auf die Speiseröhre, sondern auch auf die Hinterhand, die merklich tauber und gefühlloser wurde.
Rosie kämpfte, und so kämpften wir mit ihr. Wir besorgten ein ganzes Arsenal an Medikamenten. Sie wurde ab sofort in vielen kleinen Portionen über den Tag verteilt gefüttert. 30 Minuten vor jeder Futtergabe erhielt sie eine milchige Flüssigkeit, die wir ihr in den Fang gaben und die sie abschluckte – sie schützte vor der aufsteigenden Magensäure. Alle möglichen Tabletten mussten in bestimmten Dosierungen zu bestimmten Tageszeiten gegeben werden. Ein- bis zweimal pro Woche kam der Tierarzt zu uns nach Hause, um sie zu akupunktieren. So hofften wir, den Krankheitsverlauf verlangsamen zu können, wenn er schon nicht aufzuhalten war. Es gab gute und schlechte Tage. Rosie genoss die guten, an denen sie mit spazieren ging, sogar spielte, und ertrug die schlechten, an denen sie sich bis zu zehn Mal am Tag übergab, um das Erbrochene dann unverdrossen wieder aufzuessen. Sie wollte leben.
An einem Wochenende, an dem Turid Rugaas wieder bei uns zu Besuch war, um ein Seminar zu geben, ging es Rosie so schlecht, dass ich dachte, sie würde die nächsten ein bis zwei Tage nicht überleben. Ich wollte bei ihr sein und fragte Turid, ob sie das Seminar ohne meine Mitarbeit bestreiten könne. Sie willigte ein, und ich war erleichtert, bei Rosie bleiben zu können. Ich saß bei ihr auf der Decke, holte Chenook zu uns in die Küche, telefonierte stündlich mit der Tierklinik. Es wurde immer schlimmer. Ich rief Burkhard an, dass auch er seine Arbeit unterbrechen und nach Hause kommen möge. Als er ankam, saßen wir bei Rosie und beschlossen, mit ihr in die Klinik zu fahren. Es ging ihr elend schlecht, und wir glaubten nicht, dass wir sie lebendig wieder mit nach Hause nehmen würden. Wir hatten beide einen dicken Kloß im Hals, als wir sie ins Auto trugen und losfuhren. Noch nie hatten wir einen Hund irgendwo anders sterben lassen als zu Hause. Das war – und ist – mir sehr wichtig. Ich will nicht, dass ein von mir geliebtes Wesen seine letzten Stunden oder Minuten in der Anonymität einer Tierarztpraxis erleben muss. Für die meisten Hunde handelt es sich dabei auch noch um einen Ort, den sie aus unschönen Erfahrungen heraus fürchten. Aber es ging Rosie so schlecht, dass ich es nicht verantworten konnte, einfach weiter abzuwarten, und der Tierarzt, der zu uns nach Hause gekommen wäre, hatte keinen Dienst.
Wir trugen sie in den Behandlungsraum, die diensthabende Ärztin war erschrocken über ihren schlimmen Zustand. Eine Röntgenaufnahme zeigte, dass sich die Muskelerschlaffung der Speiseröhre dramatisch fortgesetzt hatte. Wir fragten, ob sie uns zur Einschläferung raten würde, und sie sagte, eine medizinische Indikation sei in jedem Fall gegeben, auch wenn der Hund zurzeit noch nicht in akuter Lebensgefahr sei. Burkhard und ich hatten uns zu Rosie auf den Boden gesetzt und baten, mit ihr allein sein zu dürfen. Als die Ärztin gegangen war, saßen wir einfach nur da und redeten kaum ein Wort. Und plötzlich wussten wir es – hier und jetzt und vor allem nicht so, weit fort von zu Hause, würde unser Röschen nicht sterben. Ihre Zeit war bald abgelaufen, aber noch war es nicht so weit. Wir waren uns völlig sicher über dieses Gefühl, und so trug Burkhard sie ins Auto, und wir fuhren mit ihr nach Hause. Chenook begrüßte sie mit einem sanften Wedeln, und Rosie erholte sich innerhalb von drei Tagen wieder. Sie hatte noch fünf weitere Monate! Gute Monate voller Fortschritte und Lebensfreude mit nur wenigen schlechten Tagen. Fast jeden Tag sprachen Burkhard und ich darüber, wie froh wir waren, auf unser „Bauchgefühl“ gehört und sie an jenem Tag wieder mit nach Hause genommen zu haben.
Am 08. Februar 2005 ging Rosies Zeit hier bei uns zu Ende. Innerhalb einer Woche hatte sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert, und die Speiseröhre war so weit erschlafft, dass sie auf die Luftröhre drückte. Rosie drohte zu ersticken, und wir liebten sie viel zu sehr, als dass wir ihr einen solch qualvollen Tod antun würden. Unser Tierarzt und Freund kam abends zu uns nach Hause, um sie in ihrer gewohnten Umgebung in Anwesenheit der ihr vertrauten Familie einzuschläfern. Obwohl mir vollkommen klar war, dass die Entscheidung hier und jetzt richtig war, brauchte ich fast eine Stunde, ehe ich zustimmen konnte, die tödliche Injektion zu setzen. Ich war wie betäubt vom Schmerz des Abschiednehmens. Ich hätte ihr noch so viele schöne Jahre gewünscht, sie liebte das Leben, warum musste dieser wundervolle Hund all dies Furchtbare erleben, und warum blieb ihr nicht noch etwas mehr Zeit? Fragen über Fragen, auf die es natürlich keine Antwort gab. Es war wie es eben war, und damit galt es zu leben. Sie schlief ruhig ein, Chenook, Burkhard und ich waren bei ihr. Es war an der Zeit.
Wir hatten sie auf ihrer Lieblingsdecke aufgebahrt und Kerzen um sie herum aufgestellt, damit sie den Weg in den Hundehimmel hell erleuchtet gut finden möge. Rosie hat vielen Menschen viel bedeutet, und so kam mir die Idee, einige von ihnen anzurufen, um ihnen von Rosies Tod zu erzählen und sie zu bitten, ebenfalls Kerzen für sie aufzustellen. 17 Menschen rief ich an, erst später wurde mir bewusst, dass ich alle erreicht hatte, die ich anrief.
Die Nachricht von Rosies Tod verbreitete sich rasend schnell. In den folgenden Tagen bekamen wir beinahe zweihundert E-Mails, Briefe und Anrufe von Menschen, die sie irgendwann kennen gelernt hatten und in deren Herzen sie einen Platz gefunden hatten. Alle sagten, wie außergewöhnlich dieser Hund gewesen war, wie viel er ihnen bedeutet hatte und wie traurig sie darüber waren, dass Rosie nun nicht mehr da sein würde, wenn sie das nächste Mal zu einem Seminar oder Besuch kämen. Und etwas ganz Besonderes war geschehen. Die 17 Personen, die ich an dem Abend, als sie starb, angerufen hatte, hatten nicht nur Kerzen angezündet, sondern ihrerseits Leute angerufen und die wieder ebenfalls welche. Wir wissen es nicht ganz genau, aber es haben wohl in etwa 100 Haushalten in Deutschland, Österreich und der Schweiz Kerzen für Rosie gebrannt. Was für ein außergewöhnlich schöner Abschied für einen außergewöhnlichen Hund.
Wir wussten zu diesem Zeitpunkt schon, dass wir das Bauernhaus verlassen und in ein anderes Haus umziehen würden. Bisher waren wir zwischen beiden Wohnorten gependelt, und Rosie liebte den einen ebenso wie den anderen. Beide Häuser hatten große Gärten, und so beschlossen wir, Rosie in dem Garten zu begraben, den wir weiterhin bewohnen würden, denn sie sollte weiterhin an unserem Leben teilhaben können. Sie war nun seit 14 Stunden tot, und als Burkhard sie ins Auto trug, lief Chenook mit und legte sich neben sie in den Wagen, ganz ruhig und selbstverständlich war er bei ihr, so wie er es immer gewesen war. Alle anderen Hunde blieben im Garten und schauten uns nach, machten aber keine Anstalten mitzukommen. Als wir Rosie beerdigten, schaute Chenook noch einmal in das Grab hinab, wo sie mit ihrer Lieblingsdecke und ein paar persönlichen Gegenständen von uns lag, und winselte kurz. Dann drehte er sich um und ging einfach. Zu Ostern, dem Fest der Auferstehung und des ewigen Lebens, schmückten wir ihr Grab und fassten es mit schönen Steinen ein. Seitdem wächst ein wunderschöner Rosenbusch darauf.
Rosie ist jeden Tag bei uns und wird es immer sein.